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Kostprobe


Vorsorge mit Fragezeichen
Experten streiten um Früherkennung des Grünen Stars

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt: Nach diesem Motto bieten viele Augenärzte ihren Patienten eine Früherkennungsuntersuchung des Grünen Stars als Selbstzahlerleistung an. Kritiker bezweifeln aber, ob die Augenuntersuchung den Patienten tatsächlich nützt. Die kontroverse Diskussion der Experten stürzt Risikopatienten in ein Dilemma.

Vorsichtig tastet Helene Wagner (alle Namen geändert) nach ihrer Kaffeetasse. Die 89-Jährige erfühlt die Untertasse, fährt mit den Fingern am Rand entlang, bis sie den Henkel zu fassen bekommt. Langsam führt sie die Tasse zum Mund. Bevor Helene Wagner die Tasse wieder absetzt, tastet sie nach dem kleinen Teller. „Bei Tisch muss ich immer ganz vorsichtig sein, damit ich nichts umstoße“, sagt Helene Wagner, „und manchmal finde ich sogar den Löffel nicht“. Auf dem linken Auge ist die alte Dame vollständig blind, rechts sieht sie nur noch wenig. Schuld daran ist der Grüne Star, der bei ihr vor zehn Jahren festgestellt wurde.

Beim Grünen Star, von Augenärzten Glaukom genannt, entstehen Schäden am Sehnerv, das Gesichtsfeld verengt sich immer mehr. Jedes Jahr erblinden in Deutschland etwa 2000 Menschen durch ein Glaukom. Warum die Erkrankung entsteht, ist noch nicht vollständig erforscht. Augenärzte kennen aber einige Faktoren, die das Risiko erhöhen, an einem Grünen Star zu erkranken: höheres Lebensalter, ein erhöhter Augeninnendruck, eine Glaukomerkrankung in der Familie und starke Kurzsichtigkeit.

Bei Helene Wagner wurde die Erkrankung erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium erkannt. Die alte Dame hatte ihre Augenärztin aufgesucht, weil ihr linkes Auge seit längerem schmerzte und sie immer schlechter lesen konnte. Die Ärztin stellte Schäden am Sehnerv durch einen erhöhten Augeninnendruck fest. Die verordneten Augentropfen, die den Augeninnendruck senken sollten, konnten den Verlauf der Krankheit langfristig aber nicht aufhalten. „Es wird immer dunkler“, beschreibt Helene Wagner.

Ihre Tochter Regina Becker weiß, dass sie durch die Erkrankung ihrer Mutter ein erhöhtes Risiko für den Grünen Star hat. „Ich habe Angst, wenn ich den Krankheitsverlauf bei meiner Mutter sehe“, sagt die 59-Jährige. Denn im Frühstadium verursacht das Glaukom keine Beschwerden. Die Betroffenen bemerken die Erkrankung meist erst, wenn schon große Teile des Sehnervs geschädigt sind. Deshalb hat Regina Becker dem Vorschlag ihrer Augenärztin zugestimmt, alle zwei Jahre eine Früherkennungsuntersuchung auf den Grünen Star, das sogenannte „Glaukom-Screening“ durchzuführen.

Aussagekräftige Studien fehlen
Das Glaukom-Screening ist unter Fachleuten aber umstritten. Im Herbst letzten Jahres hat ein Expertengremium den Nutzen der Untersuchung mit den Methoden der evidenzbasierten Medizin überprüft. Die evidenzbasierte Medizin verlässt sich nicht auf die Einschätzung des jeweiligen Arztes oder eine geltende Lehrmeinung, sondern berücksichtigt zusätzlich die Ergebnisse aus aktuellen wissenschaftlichen Studien an größeren Patientengruppen. Damit soll eine objektivere Bewertung erreicht werden. Die erschreckende Bilanz des Gutachtens: „Die Studienlage ist in allen Bereichen unzureichend“, sagt Petra Schnell-Inderst, Mitautorin des Gutachtens. Mit den bisher durchgeführten Studien lässt sich also nicht nachweisen, dass eine Früherkennungsuntersuchung auf den Grünen Star tatsächlich das Risiko für eine Erblindung oder starke Einschränkungen des Gesichtsfeldes senkt.

Die Diskussion um das Glaukom-Screening ist nicht neu. Schon im Dezember 2004 hatte der Gemeinsame Bundesausschuss die Untersuchung aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen, weil der Nutzen nicht belegt werden konnte. Seitdem müssen Patienten die Untersuchungen als „individuelle Gesundheitsleistung“ (IGeL) selbst bezahlen oder darauf verzichten. Für diese Regelung hat Regina Becker kein Verständnis. „Ich kann es nicht nachvollziehen, dass die Krankenkasse die Untersuchung nicht bezahlt“, sagt Regina Becker. „Wenn ich blind werde, wird es für die Krankenkasse doch noch teurer“.

Augenärzte beharren auf Empfehlung
Das Gutachten von Petra Schnell-Inderst und ihren Kollegen hat Proteste bei den Augenärzten hervorgerufen. „Der Nutzen des von Augenärzten empfohlenen Glaukom-Screenings wird von Leuten infrage gestellt, die keine augenärztliche Erfahrung haben, also auch keine Erfahrung mit dem Leid der Betroffenen, deren Erblindung bei rechtzeitiger Behandlung hätte verhindert werden können“, heißt es in einer Stellungnahme des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands. Augenärzte empfehlen für Patienten zwischen 40 und 64 Jahren alle drei Jahre ein Glaukom-Screening, ab einem Alter von 65 Jahren sogar alle ein bis zwei Jahre. „Bei der Früherkennungsuntersuchung misst der Arzt den Augeninnendruck und untersucht den Sehnerv mit einem Augenspiegel“, erklärt Georg Eckert vom Berufsverband der Augenärzte. Wenn die Befunde nicht eindeutig sind, sind weitere Tests nötig.

Nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin steht dieses Vorgehen aber auf wackligen Beinen. „Diese Empfehlungen beruhen auf ärztlicher Erfahrung, aber nicht auf Studien“, räumt Georg Eckert ein. So muss für ein Screening unter anderem nachgewiesen werden, dass die Untersuchungsverfahren ausreichend genau arbeiten. Wie zuverlässig die Tests sind, kann Georg Eckert nicht genau angeben. Seiner Erfahrung nach bieten die empfohlenen Untersuchungen zumindest eine hohe Sicherheit, kein Glaukom zu übersehen. Die evidenzbasierte Medizin fordert aber außerdem Angaben dazu, bei wievielen Patienten die Testverfahren fälschlicherweise die Erkrankung feststellen: Denn dann werden sie irrtümlich behandelt, obwohl es eigentlich nicht notwendig gewesen wäre. Die evidenzbasierte Medizin wertet das als schädliche Folge eines Screenings.

Wieviel Diagnostik ist notwendig?
Für Patienten ist es schwer zu durchschauen, welche Untersuchungsmethoden für sie sinnvoll sind. Und das macht auch in finanzieller Hinsicht einen Unterschied. Die Untersuchungen nach den offiziellen Empfehlungen der Augenärzte kosten etwa 20 Euro. Die Augenärztin von Regina Becker stellt für die von ihr bevorzugten Tests 57 Euro in Rechnung. Einmal ist Regina Becker sogar nach Leipzig in eine Spezialklinik gefahren, um den Sehnerv noch detaillierter untersuchen zu lassen. Dafür musste sie 250 Euro bezahlen. Davon erhofft sich Regina Becker noch frühere Hinweise auf eine beginnende Schädigung. Ob Patienten von ihrem Arzt immer eine objektive Einschätzung zu notwendigen Untersuchungen erhalten, ist fraglich. Denn die individuellen Gesundheitsleistungen sind für viele Ärzte zu einer lukrativen Einnahmequelle geworden. Die Bundesärztekammer schätzt, dass Patienten jährlich etwa 1,5 Milliarden Euro für die IGeL ausgeben.

Damit ein Screening dem Patienten nützt, muss es auch klar sein, wie es nach der Untersuchung weitergeht. „Die Krankheit muss geeignete Früherkennungsstadien aufweisen“, erklärt Petra Schnell-Inderst. So muss auch bekannt sein, wie sich die Erkrankung von Frühformen bis hin zum wahrnehmbaren Krankheitsbild entwickelt. „Das scheint beim Glaukom auch nicht in ausreichendem Maß der Fall zu sein“, sagt Schnell-Inderst. Denn es entwickeln beispielsweise nicht alle Menschen mit einem erhöhten Augeninnendruck auch tatsächlich einen Grünen Star.

Ab wann den Augendruck senken?
Stellt der Augenarzt einen erhöhten Augeninnendruck und Schäden am Sehnerv fest, verordnet er Augentropfen, die den Augeninnendruck senken sollen. Damit lässt sich verhindern, dass der Sehnerv weiter geschädigt wird. „In etwa 30 Prozent aller Fälle finden wir aber auch Glaukome, die bei einem scheinbar normalen Augeninnendruck entstehen“, sagt Georg Eckert. „Bei dem sogenannten Normaldruckglaukom ist der Sehnerv vermutlich besonders empfindlich“, erklärt der Augenarzt. Auch in diesem Fall sind die drucksenkenden Augentropfen nötig.

Umstritten ist aber unter Augenärzten die weitere Behandlung, wenn sich bei der Untersuchung zwar keine Schäden am Sehnerv, aber ein erhöhter Augeninnendruck findet. „Das ist an sich noch nicht tragisch“, sagt Georg Eckert. Er weist aber darauf hin, dass ein erhöhter Augeninnendruck statistisch gesehen das Risiko erhöht, im weiteren Verlauf des Lebens an einem Glaukom zu erkranken. Auch eine Behandlung mit Medikamenten sei nicht sofort notwendig, so Eckert. „Ich empfehle dann aber häufigere Kontrollen“, ergänzt der Augenarzt. Ab welchem Wert der Augeninnendruck mit Medikamenten gesenkt werden soll, wird unter Augenärzten kontrovers diskutiert. Studien, die zu dieser Frage durchgeführt wurden, kommen auch zu keinem eindeutigen Ergebnis.

Die Autoren um Petra Schnell-Inderst fordern deshalb, das Glaukom-Screening in einer umfassenden Studie zu untersuchen. Damit sollen sich die vielen offenen Fragen klären lassen. In einer solchen Studie müsste allerdings eine große Zahl an Patienten über mehrere Jahre behandelt werden, um zuverlässige und aussagekräftige Resultate zu erhalten. Regina Becker muss aber bereits jetzt Entscheidungen treffen. Sie ist froh, dass bei ihr bisher alle Befunde im normalen Bereich waren. Allerdings ist sie über das Ausmaß der offenen Fragen zum Glaukom-Screening irritiert: „Wenn sogar die Ärzte es nicht genau wissen, was sollen dann die Patienten tun?“ Für sich selbst hat sie aber entschieden: Sie wird weiter zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen, wie es ihre Ärztin empfohlen hat. Sie hofft, dass die Ärztin so einen Grüner Star frühzeitig erkennen und behandeln kann. „Ich ergreife jeden Strohhalm“, sagt Regina Becker. Die offenen Fragen und die finanzielle Belastung wiegen für sie weniger schwer als das Risiko, wie ihre Mutter zu erblinden.